Ein Wohnhaus in der Subura

  • Auch, wenn es das ärmste Viertel Roms war – oder vielleicht gerade deshalb – gab es in der Subura sehr viele Wohnhäuser. Nicht nur die verschiedenen Halsabschneider, Lupae und Verbrecherbanden wohnten hier, sondern auch etliche Handwerker, Tagelöhner, Arbeiter, Händler, Kleinkriminelle, Familien, Peregrine und zwischen drin sogar der ein oder andere vornehme Bürger. Iulius Caesar selbst hatte eine Zeit lang in der Subura gewohnt – natürlich an einer der besseren Ecken.


    Hier nun stand ein mehrstöckiges Haus, das nicht viel anders war als die in der Umgebung. Unten hatte ein Handwerker seine Taberna, wo er im hinteren Bereich auch wohnte. In den vier Stockwerken darüber wohnten Familien, wobei sie umso weniger wohlhabend wurden, je höher sie wohnten. Die unteren beiden Stockwerke waren gemauert, die darüberliegenden waren aus Holz aufgebaut und etwas wackeliger.


    Cnaeus Fabius Flaccus bewohnte mit seiner Frau und seiner Tochter den zweiten Stock. Er selbst war Paedagogus einer ganzer Schar von Kindern aus der Nachbarschaft und versuchte damit, sämtliche Rechnungen zu bezahlen. Die Familie war nicht reich und mit den wirklich reichen Fabiern nur ungefähr so nah verwandt, wie ein Esel mit einem Pferd, aber sie waren soweit eigentlich ganz glücklich und kamen zurecht.


    Flora war vor einigen Wochen sechs Jahre alt geworden. Ihr kleiner Bruder war letztes Jahr gestorben, was sie sehr traurig gemacht hatte, aber nun war ihre Mama wieder schwanger. Flora hoffte dieses Mal auf eine Schwester, auch wenn ihr Vater sich natürlich wieder einen Sohn wünschte. Aber solange es lebte und nicht starb, was es eigentlich ihnen allen dreien recht egal.

    Sie alle schliefen in demselben großen Raum. Eigentlich waren sie sowieso nur zum Schlafen im Haus, die meiste Zeit aber ansonsten davor. Schräg gegenüber des Hauses war auch ein größerer Brunnen, ein Stück die Straße hinunter eine größere Latrina und in die andere Richtung, den Hügel hinauf, gab es ein gutes Thermopolium. Es gab wirklich weitaus schlechtere Orte in der Subura, wo man wohnen konnte. Und es gab auch wirklich selten einmal Streit zwischen den Banden oder gar einen Toten in ihrer Straße. Ja, sie konnten sich wirklich nicht beklagen. Ganz und gar nicht.

  • Den halben Tag war Flora draußen mit ihren Freunden unterwegs gewesen. Sie waren eine ganze Schar von Kindern, der jüngste war gerade drei Jahre alt, der älteste war zehn, die die Nachbarschaft unsicher machten und die Straße als Spielplatz nutzten. Die Wohnungen waren sowieso alle viel zu eng und zu dunkel, als dass man dort viel hätte machen können, und sie waren alle nicht reich. Also spielten sie auf der Straße fangen, verstecken, diverse Hüpf- und Phantasie-Spiele. Wenn jemand mal ein Seil dabei hatte, um darüber zu springen, oder wenn es im Herbst Kastanien und Nüsse gab, dann war das schon etwas ganz besonderes.

    Heute hatte aber niemand etwas dabei gehabt, so dass sie einfach so gespielt hatten. Ossucula war beim Fangen spielen hingefallen und hatte sich die Knie aufgeschlagen, und Fabiolus war von seinem Vater am Ohr zurück zur Töpferwerkstatt gezogen worden, weil er arbeiten musste, aber sonst war heute nicht wirklich etwas anders gewesen als an den vielen anderen tagen auch. Am Abend waren sie alle dreckig und müde und liefen zum Brunnen, um sich einigermaßen zu waschen, ehe sie nach Hause gingen. Die meisten Mütter wollten, dass ihre Kinder einigermaßen sauber waren, ehe sie zu Bett gingen oder etwas aßen.

    Und so saß Flora auch am Rand des Brunnens und schrubbte ihre Füße, so gut es eben ging, während sie so lauschte, was denn die anderen am Brunnen so erzählten.


    “Habt ihr gehört? Bei Vesnius Burrus hat es schon wieder gebrannt!“

    “schon wieder? Dass der noch einen Vermieter findet, der diesen Pyromanen aufnimmt, grenzt schon an ein Wunder!“

    “Aber was kann er denn dafür?“

    “Na, bei mir hat es noch nie gebrannt!“

    “Du wohnst ja auch im Mauerwerk und nicht auf dem Holz!“


    Flora grinste. Es war spannend, wenn sich die Erwachsenen stritten. Da lernte man viele neue Schimpfwörter, auch wenn ihr Vater das nicht so gern hatte, wenn sie die mit nach Hause brachte. Andererseits wollte er aber auch, dass sie saubere Füße hatte, wenn sie heim kam, da musste er dann damit leben, dass sie beim Füßewaschen das ein oder andere aufschnappte.


    Flora schrubbte also kräftig weiter, als Dexion, ein Lederhändler, vorbeikam und Wasser schöpfte.

    “Habt ihr schon gehört?" fragte der große, etwas grobschlächtige Mann. Rundherum erhob sich nicken.

    “Ja, bei Vesnius hat es schon wieder gebrannt, sagte die alte Flacca.

    “Was? Schon wieder?“ fragte Dexion verwundert, ehe er sich an seine eigene Geschichte erinnerte. “Nein, das meinte ich gar nicht. Ich meinte eher von der toten Vestalin!“

    Bei den Worten brach am Brunnen erst einmal wildes durcheinander aus. Die einen jammerten von schlechten Omen, die anderen tratschen aufgeregt mit “Hast du das schon gehört? Nein, du?“ und wieder andere drängten Dexion, mehr zu erzählen.

    Der ließ sich zwar nicht lumpen, konnte aber auch nur die Schultern zucken. “Hat ein Kunde heute erzählt, dass eine der Vestalinnen gestorben sei.“

    “Weißt du, welche?, kam eine Frage aus der Menge. Dexion wollte antworten, als sich vorwitzig Novellus vordrängelte und sich mal wieder wichtig machen wollte. “Also ICH habe ja gehört, dass sie ermordet wurde!“

    Dieser Einwand wurde aber allgemein und von allen Seiten sofort derarten niedergebrüllt und niedergeredet, dass Novelus sich ganz kleinlaut davonstahl und wieder in den Hintergrund trat. Mal im Ernst, niemand in Rom wäre so bescheuert, einer Vestalin etwas anzutun. Überhaupt, warum? Die taten niemandem etwas, waren wohl das reinste, was Rom hervorzubringen hatte, wurden von allen geachtet und waren mitunter das einzige, was einem vor einem Todesurteil bewahren konnte. Nein, sowas würde nie passieren.

    Nachdem sich die Aufregung etwas gelegt hatte, hob Dexion also wieder zu einer Erklärung an. “Soweit ich weiß, die Aemilia. Ihr wisst schon, die Alte, die auch schon etwas kränklich die letzten Jahre war."

    Allgemein zustimmendes Gemurmel. Ja, da war es wohl nur eine frage der Zeit gewesen.


    Flora wollte gern noch weiter zuhören, aber ihre Mutter rief von oben aus der Wohnung, dass sie kommen sollte. Das Essen aus der Garküche war wohl schon geholt und wurde langsam kalt. Wenn Flora etwas warmes abhaben wollte, sollte sie sich sputen.

  • Oben in der Wohnung angekommen knuddelte Flora erst einmal ihre Mama und gab ihr auch einen Kuss auf den Bauch, wo ihr Geschwisterchen drin war. Es würde noch ein paar Monate brauchen, bis es da war, aber manchmal konnte Flora es schon spüren. Das war sehr interessant.

    Der Tisch war schon hergeräumt, und sie saßen alle auf dem Boden darum. Natürlich wäre es feiner, einen Tisch zu besitzen, an dem man sitzen konnte, aber dafür brauchte man Stühle und Stühle brauchten Platz. Also hatten sie einen Tisch mit niedrigen Beinchen, der, wenn er nicht gebraucht wurde, an die Wand gelehnt werden konnte, und keine Stühle. Aber das machte auch nichts, die wenigsten Leute in der Subura hatten ein richtiges Triclinum – oder auch nur eine einzige Kline. Die meisten holten sich ihr Essen in den Garküchen und waren damit durchaus sehr zufrieden. Und Flora kannte es auch gar nicht anders.

    Sie nahm also ihren Löffel, ließ sich von ihrer Mutter etwas in eine Holzschale geben und wartete brav auf ihren Vater, damit er ein kleines Gebet an die Götter sprach.

    "Wir danken den Göttern für diesen heutigen Tag. Wir danken Tellus für die reichhaltige Erde, die uns diese Mahlzeit beschert hat. Wir danken Mars, dass er die Feldfrüchte wachsen ließ. Wir danken Iuppiter für den Regen. Wir danken Sol für die Sonne. Wir danken Diana für das Fleisch auf unserem Teller. Wir danken alle Göttern für ihren reichhaltigen Segen."


    Nachdem ihr Papa geendet hatte, stürzte sich Flora wie ein ausgehungerter Wolf auf ihre Portion, was ihr einen tadelnden Blick einbrachte. Aber sie hatte Hunger! Und nur Abends gab es etwas warmes. Heute sogar mit ein wenig Fleisch im Eintopf, wenn sie das richtig gesehen hatte.

    Nachdem der größte Hunger gestillt war, fing Flora auch an von ihrem Tag zu erzählen.

    "Obscula hat sich heute BEIDE Knie aufgeschlagen. Das hat ganz schön geblutet. Und sie hat geweint. Ich hab ihr geholfen, und Cincinnatus auch, damit sie sich am Brunnen waschen kann. Fabiolus durfte nicht mitspielen, der musste arbeiten. Ich find das doof, ich wollte lieber mit ihm spielen. Er durfte auch immer schon nicht zum Unterricht mitkommen, weil er arbeiten muss." Flora plapperte fröhlich ihre Gedanken vor sich hin, so wie sie ihr in den Sinn kamen. Ihre Eltern sahen nur ab und zu mal grinsend oder tadelnd auf.

    "Nun, Fabiolus’ Vater braucht eben seine Hilfe. Es geht nicht allen so gut wie dir, Blümchen, dass sie Zeit haben, lesen und schreiben zu lernen, oder rechnen."

    "Ich weiß", seufzte Flora. Doof fand sie es trotzdem.


    Um der aber sicherlich folgenden Grundsatzvortrag ihres Vaters abzuwenden, erzählte Flora lieber weiter von den anderen Dingen des Tages. "Oh, und bei Vesnius hat es wieder gebrannt und eine Vestalin ist gestorben", plapperte sie also gleich weiter und stocherte dabei in ihrem restlichen Essen herum.

    Damit hatte sie erfolgreich abgelenkt, denn nun schauten ihre beiden Eltern verwirrt. "Eine Vestalin ist bei Vesnius verbrannt?" fragte ihre Mutter mit verwirrtem Blick.

    "Neiiiin", machte Flora, als wäre das doch klar, dass das nicht so war. "Ich weiß nicht, wo die Vestalin gestorben ist, das hat Dexion nicht gesagt. Aber ein Kunde hat ihm erzählt, dass eine Vestalin gestorben sei." Das musste man doch wissen!


    Ihre Eltern tauschten kurz einen Blick. "Ein schlechtes Omen, oder?" fragte ihre Mutter besorgt.

    "Mach dir keine Gedanken, Liebes. Ich höre mich morgen mal um, was überhaupt an dem Gerücht dran ist. Und überhaupt, dann wird wieder ein Mädchen aus der Nobilitas nachrücken. Das ist sicher kein schlechtes Omen", meinte Cnaeus Fabius Flaccus nur leicht dahin und aß ungerührt weiter. Und auch Flora mampfte einfach weiter und fuhr fort, alles mögliche zu erzählen, was sie so aufgeschnappt hatte.

  • Die meisten Tage verliefen eigentlich genau gleich. Es gab ein schnelles, kleines Frühstück, danach half Flora ihrer Mutter ein wenig mit dem Geschirr und dem Fegen der Wohnung. Dann ging sie nach unten, wo ihr Vater an der Ecke der Straße seine Schüler unterrichtete. Die waren alle schon etwas älter und fast nur Jungs. Die wenigsten Familien hier konnten es sich leisten, auch den Mädchen was beizubringen. Flora hatte da sogesehen Glück, denn sie lernte es natürlich von ihrem Vater. Ab und zu winkte er sie auch zu sich in den Unterricht, dass sie mit aufpasste, auch wenn sie dann die jüngste war. Das fand Flora meistens doch sehr langweilig, und es war schwer als Tochter des Lehrers mit den anderen Freundschaft zu schließen.

    Also verkrümelte sie sich meist heimlich still und leise zu den anderen Kindern der Nachbarschaft, die sich entweder von ihren Pflichten davongestohlen hatten oder eben einfach so auf der Straße miteinander spielten. Und wenn nichts dazwischen kam oder etwas besonderes passierte, machte sie das dann auch so bis zum Abend, wobei sie dann einmal hier und einmal dort noch eine Kleinigkeit zu essen bekamen. Mittags war das meistens doch eher mau, und sie waren alle froh, wenn sie was hatten. Und Abends wurden sie dann alle von den Eltern wieder heimgerufen, wuschen sich an dem ein oder anderen Brunnen und gingen dann heim, um das Essen aus einer der vielen Garküchen zu essen.


    Aber heute war es anders. Es hatte so begonnen, wie immer, da war noch nichts außergewöhnlich gewesen. Aber es war gerademal kurz nach Mittag, als sie ihre Mutter rufen hörte. Flora verabschiedete sich von ihren Freunden und ging los, wobei sie sich fragte, was sie angestellt haben könnte, dass ihre Mutter sie jetzt schon rief. Oder war etwas schlimmes passiert? Flora hoffte nur, dass ihr Vermieter sie nicht rauswarf. Das passierte in der Subura schonmal. Flora hatte das schon mehr als einmal mitbekommen, wie plötzlich eine Familie auf der Straße gestanden hatte. Aber ihre Eltern zahlten immer brav ihre miete, da sollte der Vermieter sie eigentlich nicht rauswerfen.

    Sie ging schnell nach Hause und ersparte sich den sonst eigentlich notwendigen Schritt, sich erst gründlich am Brunnen zu waschen. Sie wäre sowieso nicht dazu gekommen, denn ihre beiden Eltern standen vor dem Haus auf der Straße und redeten mit einem reichen Mann. Flora hatte keine Ahnung, wer das war, aber der hatte eine Toga an. Etwas, das hier in der Subura niemand trug, außer, er musste zu Gericht, um eine Aussage zu machen. Und schon gar nicht so eine. Die war nicht aus der einfachen Wolle, die hier alle trugen. Und seine Tunika hatte auch nicht einen einzigen Flicken. Und er trug einen Ring am Finger. Und hatte Schuhe an, die nicht geflickt waren. Der war definitiv ganz reich. Und Flora hatte keine Ahnung, warum der mit ihren Eltern sprach. Das machten die reichen Leute sonst nämlich nicht.

    "Das ist meine Tochter", sagte da auch gerade ihr Vater und zeigte auf sie. Was bei allen Göttern war hier los? Flora fühlte sich plötzlich im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit und wollte da nicht sein. Sicherheitshalber ging sie schnell zu ihrer Mutter und halb hinter sie, damit der reiche Mann sie nicht so ansah. Aber auch die schob sie zwar sanft, aber doch zielstrebig so, dass der Mann sie ansehen konnte. Irgendwas war hier sehr faul.


    "Salve, Fabia Flora" sagte der Mann nicht unfreundlich, während er sie von allen Seiten zu begutachten schien. Flora sagte erst nichts, erhielt dann von ihrer Mutter aber einen dezenten Stoß, der sie an ihre Manieren erinnern sollte. "Salve", piepste sie also unsicher zurück.

    "Hab keine Angst. Ich bin Pontifex Aquilius Cincinnatus. Wie alt bist du, Fabia?"

    Flora sah einmal hilfesuchend zu ihrer Mutter auf. Die Situation war ihr unheimlich. "Ich bin sechs", sagte sie, als ihre Mama ihr zunickte. Auch die sah irgendwie nervös aus, was Flora noch nervöser machte.

    "Dein Vater sagte mir, dass du lesen und schreiben kannst. Stimmt das?"

    "Ja, aber nicht so gut wie die Schüler von Papa."

    "Und du bist auch gesund und kräftig, wie mir scheint."

    Was war das denn für eine komische Aussage? "Ja, ich hab mir gestern beim Spielen das Knie aufgeschlagen und fast gar nicht geweint", erzählte sie freimütig und zog ihre Tunika soweit hoch, dass der komische Mann den Schorf auf ihrem Knie bewundern konnte. "Guck, da hat’s geblutet. Aber ich hab nur ein bisschen geweint!" Ja, nur Heulsusen weinten, wie Obscula, aber Flora konnte genauso toll spielen wie die Jungs, und darauf war sie stolz!

    Der Mann nickte. "Danke, Fabia, du kannst dann weiterspielen, während ich mich mit deinen Eltern unterhalte."

    Flora schaute noch einmal skeptisch, nutzte dann aber die Gelegenheit, schnellstmöglich zu verschwinden. Das war ihr alles viel zu seltsam.