Captio Vestalis Fabiae Florae

  • Im Atrium Vesta war alles für die Ankunft einer neuen Vestalin vorbereitet worden. Ein Raum wurde für das Mädchen gerichtet, Kleider lagen bereit, auch ein warmes Bad war bereits eingelassen und wartete nur darauf, benutzt zu werden. Im Atrium selbst war alles vorbereitet für das Collegium Pontificum, das nach den Ritualen die neue Vestalin begrüßen durfte.


    Die fünf Vestalinnen folgten dem Kaiser, der die gerade erwählte Fabia Flora hinter sich ins Atrium Vestae zog. Scribonia Sabina als dienstältester Vestalin oblag es hier nun, das Mädchen in Empfang zu nehmen. Sie wies die übrigen Vestalinnen also an, sich hinter ihr zu versammeln, als sie sich feierlich dem Kaiser gegenüberstellte und darauf wartete, dass er ihr das Mädchen übergeben würde.

  • Das Mädchen an seinem Arm zerrte und weinte nach seiner Mutter. Ja, das hier war ein Raub, ja, es war ein kleines Mädchen, ja, es durfte weinen. Aber Gnaeus Septimius Antoninus Augustus wünschte sich dennoch, sie würde es mit ein wenig mehr römischer Würde und vor allen dingen etwas leiser ertragen. Glücklicherweise war der Weg aber nicht weit, bis ins Atrium Vestae war nur eine Straße zu überqueren und dann ein kurzer Hof vorbei am Tempel der Vesta, und schon war sein Raub an einem Ende angelangt.

    Er wartete, bis die Vestalinnen sich vor ihm aufgebaut hatten und die Pontifices sich hinter ihm angeschlossen hatten. Glücklicherweise war das Atrium Vestae sehr geräumig, um eben auch größere Gruppen von Besuchern empfangen zu können. Doch, da hatte sein Vorgänger Traianus wirklich ganze Arbeit geleistet, als er das Atrium restaurieren und vergrößern ließ. Vielleicht sollte er selber den Vestalinnen auch noch einen kleinen Anbau oder sowas schenken. Sein Ruf als Pontifex Maximus war in der Bevölkerung nicht der allerbeste, wie er wusste. Ein wenig die eigene Frömmigkeit herauszustreichen konnte da nicht schaden. Vielleicht sollte er es mit seiner Frau einmal besprechen.


    Als schließlich alle bereit waren, zog er das Mädchen an der Hand nach vorne. "Hiermit, Virgo Maxima Vestalis, übergebe ich dir Fabia Flora, auf dass sie Priesterin der Vesta werde." Sprachs und ließ das Mädchen dann los. Jetzt hatten erst einmal die Vestalinnen die Aufgabe, das Mädchen zurechtzumachen, während er und die Pontifices es sich hier im Atrium gemütlich machen konnten, etwas essen und trinken und vor allen Dingen sich aufwärmen konnten, bis die Vestalinnen soweit fertig waren, aus dem kleinen Mädchen eine waschechte Vestalin zu machen.

  • Ich rollte nun doch mit den Augen und meine Priester Kollegen und ich tauschten Blicke aus. Ja die hier übertrieb es mal so wirklich. Das Kind heulte laut und währte sich gegen den Kaiser. Natürlich hatte sie keine Chance und so schritten wir würdevoll hinter dem Kaiser, der das laut weidende Mädchen hinter sich herzu, her. Nun ließ er es los und übergab das Kind den Vestalinnen. Ja das war jetzt deren Problem. Wir konnten Platz nehmen uns aufwärmen, essen, trinken aber vor allem konnten wir uns unterhalten und der Kaiser war zugegen, solch einen Gelegenheit nutze jeder gern. Ja jetzt kam für uns hier der angenehmen Tei.

  • Der Kaiser schleppte Flora über die Straße in ein großes Haus, während ihre Mutter und ihr Vater auf dem Forum zurückblieben. Anfang verdrehte Flora sich noch und weinte und rief nach ihrer Mama, aber als sie im Haus angekommen waren und sich alle so um sie herum postierten, schniefte sie nur noch und schluchzte leise. Am liebsten hätte sie dem Kaiser einmal kräftig vors Schienbein getreten, aber da wusste sie doch, dass sie das nicht durfte. Das hätte wohl doch so viel Ärger gegeben, den sie lieber nicht ausbaden wollte, dass Flora es ließ. Stattdessen machte sie sich einfach nur klein, als sie so ein wenig nach vorne in Richtung der Vestalinnen geschubst wurde. Sie umarmte sich selbst ganz fest und zog eine ordentliche Schnute, während hier und da noch vereinzelte, teils theatralische Schniefer zu hören waren. Nein, sie wollte hier absolut nicht sein und sie war sich ganz sicher, dass Vesta gerade einen riesigen Fehler gemacht hatte. Und bei der ersten Gelegenheit, die sich finden würde, würde sie auch einfach wieder nach Hause laufen.

  • Die Virgo Vestalis Maxima Scribonia blickte auf den Scheitel des kleinen Mädchens vor sich, das gekrümmt, die Arme um sich geschlungen vor ihr stand:

    "Fürchte dich nicht, liebe Fabia", sprach sie, doch was getan werden musste, musste getan werden, und da war es besser, wenn es schnell geschah. Mit geübter Hand fasste sie dem Kind in den Nacken, zwirbelte das lange braunglänzende Haar zu einem lockeren Zopf und zog ihn straff. Und da war auch schon Vibia Perpetua, ein perfekter, unnahbarer Anblick mit einem glänzenden Gegenstand in ihrer Rechten.


    Ritsch.... ratsch.... die große Schere trennte den Zopf vom Haupthaar.


    Die Obervestalin nahm ihn mit beiden Händen und trug ihn zu dem Lotus capillata, dem ehrwürdigen Lotosbaum. Dort verknotete sie ihn in einem Zweig. Auch andere Zopfreste hingen dort, zerzaust, schon halb vergangen.

    Während Vibia schwieg, beugte sich aber jetzt eine andere der Priesterinnen zu Fabia Flora herab: "Komm Amata, Liebes, wir wollen dich baden und schön anziehen.", sagte sie sanft. Das war Antonia Libella.


    Ein leichter Herbstwind strich durch den Innenhof und plusterte den Mädchenzopf im Baum auf, als wäre er immer noch mit einem Leben verbunden.

  • Flora stand noch da, als auf einmal die ganzen Vestalinnen zu ihr kamen. Fürchte dich nicht, sagte eine. Die hatte gut reden! Die wurde ja auch nicht grade vom Kaiser entführt! Flora schmollte, als die Frau ihr die Haare streichelte. Und mit einem Mal zog sie ihr an den Haaren – "HEY!" und dann kam auch schon die zweite und SCHNITT SIE IHR AB!

    Flora schrie, laut und in diesem hohen Ton, den nur kleine Kinder treffen konnten, wenn sie kreischten. Sie griff sich nach oben ins Haar, oder besser dahin, wo einmal ihr Haar gewesen war, und weinte sehr bitterlich darüber, während die Vestalinnen ihre Haare einfach an einen Baum hingen. Warum brauchte der Baum ihre Haare? Das war doch gemein!

    Und dann sagte eine der Vestalinnen auch noch, dass sie baden sollte. "Aber ich hab doch heute schon gebadet!" protestierte sie. Wie oft musste man denn hier an einem Tag baden? "Ich bin doch gar nicht dreckig!" sie stampfte auf und heulte wieder. Das hier war gemein.

    Aber natürlich folgte Flora trotzdem. Was blieb ihr auch anderes übrig. Gut, sie hätte sich auch noch wie ein kleines Kind auf den Boden schmeißen und heulen können, aber das brachte ja im Endeffekt doch nichts, außer vielleicht noch ein paar Schläge. Aber gemein war es trotzdem!

  • Die Vestalischen Jungfrauen schauten sich an, besorgt und ein wenig ratlos. Sie waren fast alle früh berufen worden, manche war Tante, aber natürlich war keine jemals Mutter gewesen. Das hohe empörte Kinderkreischen, welches Flora ausstieß, ließ sie zusammenfahren.


    Nur Vibia Perpetua behielt ihre eisige Miene. Wären die Priester und der Pontifex Maximus nicht anwesend gewesen , hätte sie wohl noch einmal mit der Schere geklappert und dem Mädchen gedroht, ihm noch etwas anderes abzuschneiden, wenn es nicht Ruhe gäbe. Sie fasste nach dem Handgelenk der Kleinen und das wesentlich fester als es nötig war. Mit ihr war nicht zu spaßen, das sollte Fabia Flora sich merken.


    Antonia Libella legte von der anderen Seite den Arm um die Kleine. Es sah wirklich wie eine captio, eine Gefangennahme aus, aber ganz gleich was geschehen sollte, war allen klar, dass sich Vesta niemals irrte. Sie wollte dieses Mädchen und kein anderes.

    Antonia versuchte es weiterhin im Guten:

    "Liebes, die gütige Vesta hat dich so lieb gewonnen, dass sie möchte, dass du nun bei ihr lebst. Aber sie ist eine Göttin, und du weißt ja bestimmt, dass das etwas ganz Feines ist. Deshalb musst du auch fein sein und jetzt baden und feine Kleider bekommen."


    Der Raum, in dem das rituelle Bad stattfinden sollte, war wie fast alle Räume des Atriums durch ein Hypocaustum geheizt. Die marmorne Wanne selbst war groß und wie eine Muschel geformt und aus goldenen Hähnen ergoss sich unaufhörlich heißes und kaltes Wasser und floss am Boden wieder ab. Die Wände waren reich verziert. Dieses balneum war prächtiger und dabei intimer als selbst die prächtigen kaiserlichen Thermen.

    Die Vestalinnen waren sich sicher, dass das kleine Mädchen, über dessen plebejische Herkunft sie unterrichtet waren, noch nie zuvor so etwas Prunkvolles gesehen hatte. Gewiss würde es nun staunen und sich still in die Wanne begeben, um sich baden und umziehen zu lassen.


    Antonia lächelte und schob Valeria etwas nach vorne. Bisher war die vierzehnjährige Valeria die Jüngste, und ihr Mädchengesicht sollte Flora Vertrauen einflößen. Sie selbst streckte die Hand aus, um der Kleinen in die Wanne zu helfen, während bereits eine Aeditua mit Handtüchern bereit stand.


    Auf einer mit Intarsienarbeiten aus Elfenbein verzierten Truhe lagen das lange, weiße Oberkleid, welches mit Purpur verbrämt war, das suffibulum, der weiße Schleier und das diademartige Stirnband, die infula mit den vittae, den langen Bändern. Zwei Aedituae standen bereit, Flora anzukleiden.

  • Eine der Vestalinnen versuchte, sie irgendwie aufzumuntern, sprach dabei aber mit ihr, als wär sie zwei oder so. "Ich bin schon sechs!", schnauzte sie also, während sie ins Bad stapfte und darauf pfiff, ob die Göttin irgendwas Feines war oder nicht. Die hatte einfach einen Fehler gemacht, so sah es aus! Die hätte das Mädchen mit den Blumen im Haar nehmen sollen, dann wären alle hier glücklich. Dann hätte der Baum jetzt nicht nur ein paar Haare, sondern auch sicherlich ganz teure Blumen, das wär doch viel besser als ihr braunes Haar.


    Und ja, sowas wie das Balneum hatte Flora in ihrem ganzen Leben noch nie gesehen. Hier war es einfach RIESIG! Und es gab fließendes Wasser – gut, das hatte es im Brunnen auch – was aus goldenen Ausflüssen rauskam. Sie schaute sehr skeptisch auf das alles. Die Wanne war groß genug, dass sie und alle ihre Freunde gleichzeitig darin baden hätten können. Flora schaute ein wenig skeptisch, ob jetzt die Vestalinnen alle mit ihr gemeinsam baden würden, aber die blieben angezogen und bis oben hin zugeschnürt.

    Aber an ihr wurde wieder herumgezupft und herumgezuppelt, damit sie ihr Kleid auszog. "Das hat meine Mama genäht!", protestierte Flora, als ihre Tunika ihr über den Kopf gezogen wurde und sie jetzt nur noch ihre geflickten Schuhe anhatte. Aber auch die musste sie ausziehen. Sie stellte sich schon darauf ein, gleich zu frieren, aber der Boden war merkwürdig warm. Überhaupt war hier alles merkwürdig warm. Fast wie in der Therme. Sie war schon ein mal in einer Therme gewesen, sie erinnerte sich noch. Aber nicht lange, weil dann die reichen Leute wieder kamen, hatte ihre Mama ihr erklärt. Aber hier war es irgendwie so ähnlich.

    Jetzt aber wurde sie bestimmt in Richtung Wasser geschoben, und Flora spannte sich und wand sich immer mehr, je näher das Wasser kam. Sie hasste baden. Aber nein, die schreckliche Alte, die ihr die Haare geschnitten hatte, schob sie förmlich rein ins Wasser.

    "Heiss!" rief Flora, als sie reinstolperte. Es brauchte einen Moment, bis sie verstand, dass das Wasser wirklich warm war und nicht kalt, wie befürchtet. Sogar wärmer, als Mama es in der Waschschüssel machte. Das war sehr seltsam.

    Aber Flora kam auch jetzt wenig dazu, sich zu wundern, denn schon wurde sie eingeseift und geschrubbt. "He, ich kann das alleine!" protestierte sie, aber nein. Sie kreischte, aber half auch nicht. Dann schmollte sie und ließ die anderen machen. Ein wenig weinte sie dabei. Sie hasste das hier. Sie wollte wieder heim. Auch wenn es da kein warmes Wasser gab.

    Schließlich durfte sie wieder raus aus der Wanne und schüttelte sich wie ein Hund, wurde aber auch sogleich eingefangen und in weiche Handtücher gewickelt. Flora hielt das Handtuch um sich herum fest und sah sich um, welche Folter sie jetzt als nächstes erwartete.


    Es war die Anziehfolter.


    Zwei Frauen kamen zu ihr und zogen ihr ein weißes Kleid über. "Ich will mein Kleid von meiner Mama!" und kämmten sie "Das ziept!" und machten ihr zuletzt eine Stirnband um den Kopf und einen Schleier dazu. Flora kam sich reichlich blöd vor. Und stand nun auch da und schmollte leise.

  • Anziehen bedeutete nicht nur anziehen. Da Fabia Flora solch ein kleines Persönchen war und man die teuren Gewänder nicht auseinander schneiden wollte, wurde gebunden, gerafft, gesteckt und gewickelt was das Zeug hielt. Der Schleier durfte nicht auf dem Boden schleifen und das Kleid brauchte eine gewisse Länge. Die Aedituae waren rot inm Gesicht vor Anstrengung, obgleich die Kleine zwar protestierte, doch einigermaßen ruhig dastand.


    Valeria Maximilla hatte sich eines kurzen Lächelns nicht erwehren können, als sie hörte wie Flora die Antonioa anpampte( obgleich die es war, die es am wenigsten verdiente) und nun fühlte sie mit ihr. Sie selbst war klein, kleiner als der römische Durchschnitt, und so war es ihr ähnlich gegangen wie jetzt der Neuen.

    Mit dem ganzen steifen Zeug am Körper dachte man, dass man nie wieder atmen geschweige denn laufen konnte. Es blieb einem gar nichts anderes übrig, als sich langsam und gemessen zu bewegen.


    Am Ende wurde das suffibulum noch mit einer Fibel unter dem Kinn zusammengesteckt, damit auch wirklich nichts verrutschte (daher der Name) und dann drehten die Tempeldienerinnen zufrieden mit sich und ihrem Werk Fabia Flora zur Maxima um, damit diese sie begutachten konnte.

  • Scribonia Sabina nickte Zustimmung, und die anderen Vestalinnen auch. Fabia Flora sah nun genauso aus wie eine von ihnen, wenn auch im Miniaturformat, wie eine kleine Puppe. Vor öffentlichen Auftritten würde sie jedesmal so gekleidet werden, nur im Privatbereich des Atriums würde sie auch legere Kleidung tragen.

    "Komm nun, Amata, wir wollen dich den Pontifices präsentieren", sprach sie freundlich und gab ihr die Hand.

    In drei Zweierreihen kehrten sie in das Atrium zurück, in dem das Collegium wartete.

  • Eingewickelt bis zu den Haarspitzen stand Flora schmollend da. Und andauernd nannte man sie Amata. "Ich heiß Fabia Flora!" stampfte sie mit einem Fuß auf, oder versuchte es, denn dieses Kleid ließ wildes Stampfen einfach nicht zu. Das war gemein. Und es ziepte. Und die Spange unter dem Kinn drückte doof. Und überhaupt war alles eng und unbequem und falsch.


    Aber nein, das hier war noch nicht zuende. Jetzt sollte sie so auch noch laufen. Flora machte ein gesicht wie sieben tage Regenwetter und stampfte sehr unmädchenhaft neben der Vestalin, die sie an der Hand genommen hatte, her, wieder zurück in Richtung des Atriums. Flora hatte so keine Lust auf all das, aber abgesehen von ihrem Gesichtsausdruck hatte sie den weiteren Widerstand inzwischen eingestellt. Sie wollte sich einfach nur irgendwo verkriechen, wo sie keiner fand, irgendwo in eine Höhle oder sowas.

    Aber nein, sie konnte nicht in eine Höhle, sie musste ins Atrium, zu den ganzen Priestern und dem Kaiser. Resigniert ging Flora also und blieb am Ende einfach stehen, den Blick starr auf den Boden gerichtet und die Lippe schmollend leicht vorgestreckt. Nein, das hier war ein Fehler. Und wenn sie könnte, würde sie abhauen und einfach ganz schnell heimlaufen.

  • Während die Pontifices ein wenig speisten und plauderten, hörte man aus den Eingeweiden des Atriums nur hin und wieder ein Kreischen oder einen Schrei. Gnaeus Septimius Antoninus Augustus tat wie wohl alle so, als würde er überhaupt nichts bemerken und redete einfach fröhlich weiter oder nahm einen Schluck des dargereichten Weines. Viel mehr, als eben zu warten, bis aus dem kleinen Mädchen eine Vestalin geworden war, mussten sie nicht, mehr sah das Protokoll nicht vor.


    Und es dauerte auch nicht allzu lange, bis ein leises Räuspern den Kaiser daran erinnerte, aufzustehen und sich umzudrehen, als die Vestalinnen hereinkam. Nun waren sie wieder zu sechst, wie die Staatsordnung es vorsah, alle in Weiß und Purpur, mit Schleier und Gürtel, so, wie es sich gehörte. Auch das kleine Mädchen sah nun zumindest wie eine Vestalin aus, auch wenn Antoninus durchaus wusste, dass die älteren Vestalinnen eine Weile brauchen würden, um sie wirklich in eine zu verwandeln. Nicht umsonst waren die ersten zehn Jahre für eine Vestalin dazu gedacht, zu lernen, und erst die folgenden zehn – oder besser zwanzig – um der Göttin als Priesterin zu dienen und zuletzt die neuen Vestalinnen zu lehren.

    Antoninus gab sein Kaiserlächeln zum besten, als er die Vestalinnen wieder begrüßte. "Seht her, Pontifices, unsere Vestalinnen sind wieder komplett und der Frieden und Wohlstand des Staates ist gesichert."

    Anschließend wandte er sich kurz an die neue Vestalin. "Du, die du deinen Eltern geraubt wurdest, wirst fortan Schwester und Tochter von ganz Rom sein. Dein Handeln und deine Keuschheit beschützen den Staat und das Volk, ebenso, wie das Volk und der Staat dich schützen werden und dir Vater und Bruder sein werden."


    Gut, das kindliche Gesicht sprach nun nicht unbedingt von Erkenntnis und Ergriffenheit, aber gut, es war eben ein kleines Mädchen. Sie würde es schon noch lernen. Antoninus nickte der obersten Vestalin zu. Der offizielle teil war erledigt.

    "Virgo Scribonia, falls ihr noch etwas benötigt, kannst du dich jederzeit an mich wenden. Für heute jedoch fürchte ich, dass die anderen Staatsgeschäfte nicht allzu lange warten, weshalb ich mich für heute entschuldigen werde. Ich bin mir sicher, dass du deiner neuen Schwester gewachsen sein wirst."

    Ja, vielleicht war das eine kleine Flucht, aber als Augustus Imperator hatte man wirklich nicht allzu häufig Zeit für irgendwelche Feste und dergleichen, und wenn noch etwas wäre, konnten die Vestalinnen sich ja jederzeit melden.

  • Das erste Mal in ihrem Leben sah Maximilla, dass die Vestalis Maxima etwas errötete und dem Kaiser mit fester Stimme antwortete: "Selbstverständlich bin ich der neuen Schwester gewachsen. Die gütige Vesta irrt sich niemals."


    Da der offizielle Teil erledigt war, verließen der Pontifex Maximus und seine Amtskollegen mit Segenswünschen das Atrium, und die Serviersklavinnen deckten ab und deckten wieder neu ein, denn nun sollte eine kleine Cena im Kreise der Priesterinnen stattfinden.


    Virgo Horatia sah allerdings ein wenig so aus, als hätte sie gerade ihre Zweifel an den Entscheidungen der Göttin entdeckt, und die Virgo Vibia Perpetua machte ein Gesicht als wolle sie sagen: Na, überlasst das nur mir....

    Dabei tat Fabia Flora jetzt überhaupt nichts Besonderes mehr. Die ganze kleine Person wirkte auf Maximilla wie eine Maus in der Falle, die erschöpft und am Aufgeben war.


    "Komm nun, Amata und setze dich in die Mitte, denn du bist heute unser Ehrengast.", sprach Scribonia und schob der Kleinen eigenhändig einen Stuhl zurecht.

    Die Priesterinnen würden nicht zu Tisch liegen sondern sitzen. Auch die aufgetragenen Speisen trugen der offiziellen steifen Tracht der Vestalinnen Rechnung: Mundklein geschnittene feine Küchlein gab es, Käsewürfel und in Rauten geschnittenen festgewordenen puls.


    Maximilla kam neben Flora zu sitzen und hatte nun die Gelegenheit, zu ihr etwas zu sagen:

    "Mach dir keine Sorgen wegen des Kleides, das deine Mama genäht hat.", flüsterte sie: "Die Dienerinnen legen es zusammen und bringen es nachher in dein Cubiculum. Es gehört dir ja, und wir dürfen Eigentum haben."


    Das sie es nie wieder tragen würde, das wollte Maximilla der Neuen nicht gerade auf die Nase binden.


    Antonia Libella versuchte es weiter mit Aufmunterung: "Jetzt lächle doch einmal, meine Süße", sagte sie selbst lächelnd und wies auf den Kuchen:

    "Und iss etwas. Wir freuen uns alle so sehr, dass du jetzt bei uns bist."

  • Flora hörte mit zum Boden gerichteten Blick zu, wie der Kaiser sagte, sie würde jetzt Schwester und Tochter von ganz Rom sein. Das wollte sie aber gar nicht. Sie wollte nur ihre Mama und ihren Bruder in Mamas Bauch. Der Rest von Rom konnte ihr getrost gestohlen bleiben, allen voran die ganzen Leute hier im Raum. Zum Glück wollte niemand, dass sie irgendwas sagte.


    Der Kaiser ging und ein Tisch wurde gedeckt. Flora sollte sich auf einen großen Korbstuhl setzen, also setzte sie sich hinein. Ihre Beine baumelten in der Luft, denn das Ding war riesig und sie, nunja, eben nicht. Überhaupt hatte sie noch nie in so einem Stuhl gesessen, und sie schaute sich die ganze Sache skeptisch an. Wäre die Sachlage anders, sie wäre wohl aufgeregt deshalb gewesen und hätte sich gefreut, ebenso über das Essen, welches echt lecker roch und teuer aussah. Das war anders als der Eintopf, den es in der Caupona um die Ecke gab. Aber Flora hatte keinen Hunger und schaute fast trotzig zu den kleinen Häppchen. Sie verschränkte sogar die Arme vor der Brust, oder versuchte es zumindest, denn dieses Kleid war furchtbar, und im Sitzen sogar noch unbequemer als im Stehen.

    Eine der Vestalinnen beugte sich zu ihr und sagte ihr, dass das Kleid ihrer Mama nachher im Cubiculum wäre. Wenigstens was. Flora nickte kurz und versuchte, die Beine hochzuziehen. Sie musste ein weilchen auf dem Stuhl rumrutschen, bis sie den Stoff ihres dummen Kleides so weit hatte, dass sie die Füße auch auf die Stuhlfläche hochbekommen hatte und nun ihre Knie umarmen konnte.

    Als dann wieder eine von den älteren Vestalinnen sie aufforderte, zu lächeln, bekam die einen bitterbösen Blick und Flora igelte sich noch ein bisschen mehr ein. "Ich will nichts essen, ich hab keinen Hunger" schmollte sie und blieb so einfach sitzen. Sie hatte noch keine Ahnung, wie sie hier weglaufen könnte, aber der Plan stand ganz sicher fest. Vielleicht, wenn alle schliefen? Wenn ihr Kleid im Cubiculum war, musste sie sich heute Nacht nur leise anziehen, vorsichtig an den anderen Vestalinnen vorbeischleichen, die Tür aufmachen und dann raus. Ja, das war ein Plan. So ein klein wenig hob sich Floras Laune.