Mitternacht war gerade verstrichen, als Kara das Haus verlassen hatte. Sie trug einen Umhang gegen die Kälte um die Schultern, darunter eines der etwas hübscheren Kleider, die sie besaß, wenngleich aus Wolle. Ansonsten hatte sie einen Beutel dabei, in welchem sie die Dinge verstaut hatte, die sie der Göttin darbringen wollte.
Und so lief sie durch die Straßen des Esquilin in Richtung Subura. Ihr Ziel war wie schon beim letzten Mal die große Kreuzung am Lacus Orphei, wo drei Straßen aufeinandertrafen. Hier war der perfekte Ort, um Hekate, Göttin der Dreiwegskreuzung, zu huldigen. Kara hielt sich am Rand der Straße, vorbei an den vielen Karren, die in Richtung der Märkte noch rollten, die letzten Nachzügler der großen Karawane, die mit Einzug der Dunkelheit hier hereinrollte und bald schon wieder hinausrollen würde, diesmal leer und müde. Ihr Schritt war beschwingt, fast ein wenig aufgeregt, und sie huschte so durch die nächtlichen Straßen bis an ihr Ziel.
Wie immer war die Kreuzung groß und dunkel, das Pflaster des Bodens schimmerte silbrig vom vorausgegangenen Regen. Kara suchte sich den Platz in der Mitte der Kreuzung, wenngleich die Wagen ihr so nun mehr ausweichen mussten. Aber das war ihr egal. Die heutige Nacht gehörte Hekate. Alle anderen mussten sich ihr unterordnen.
Und das taten sie auch.
Wie von selbst wichen die Wagen aus, suchten einen Weg um die Gestalt herum, die die Mitte der Kreuzung für sich beanspruchte und dort auf den Boden niederkniete und die Tasche hervorholte. Sie holte eine Kerze hervor, und schlug mit Feuerstein und Eisen so lange Funken, bis sie entzündet war. Es brauchte drei Anläufe. Kara lächelte, als beim dritten Versuch die Flamme leicht flackerte und ein heller, goldener Schein sich ausbreitete.
Nun holte Kara die weiteren Gaben aus ihrer Tasche: Kleine Tonschalen, in die sie Mehl, Honig und Milch füllte. Als alles platziert war, atmete Kara drei Mal tief durch, legte dann ihre Hand auf ihr Herz, dann auf ihre Lippen, und schließlich richtete sie beide Hände zum Sternenzelt über ihr.
"Hekate!" flüsterte sie zu den Sternen über ihr, halb in Trance, ganz im Augenblick. Ihr Körper wiegte leicht, wie die Flamme der Kerze vor ihr. "Ich rufe dich, Gebieterin über Himmel, Erde und Wasser, im Namen des Mondlichts und des Schattens der Sonne. Ich rufe dich, Gebieterin über Leben, Tod und Wiedergeburt, dreifaltige Herrin der drei Pfade, Trägerin der Schlüssel und Herrin der Nachtwandernden. Ich verehre dich, Göttin des Sternenfeuers und der Weisheit der Unendlichkeit!"
Karas ganzer Körper wiegte sich zur Melodie des Sternenlichts, das nur sie hören konnte, sanft hin und her, so wie sich die Flamme vor ihr wiegte. Sie sprach leise, denn Zauberei war verboten, und Hekate war die Göttin der Magie, die größte aller Zauberinnen. Wenngleich Kara nie Magie einsetzen würde, um jemandem zu schaden, rief man die Göttin nicht laut an, sondern leise, geflüstert, geheim.
Eine zweite Frau trat auf die Kreuzung. Auch sie hatte gaben dabei. Sie entzündete ihre Kerze an der von Kara und begab sich in eine ähnliche Position.
"Hekate der vielen Namen – Polyonumos, steig aus der See, dreh dein magisches Rad und erhöre unsere Gebete", intonierte sie und wiegte sich zu derselben Melodie.
Es dauerte nicht lange, und eine dritte Frau, etwas älter, stieß hinzu und erhellte ihre Kerze.
"Hekate der vielen Wege – Polytropos, steig aus der Erde, dreh dein magisches Rad und erhöre unsere Gebete", bat sie und vollendete mit ihrer Gestalt das Dreieck, das die Frauen bildeten.
"Hekate der vielen gestalten – Polymorphikos, steig aus dem Himmel, dreh dein magisches Rad und erhöre unsere Gebete", sang Kara, beseelt vom Feuer der Göttin.
Ohne sich abzusprechen, erhoben sich die drei Frauen und begannen, miteinander zu tanzen. Es war ein verschlungener Tanz, hier eine Drehung, da ein vorbeihuschen. Es gab keine Regeln, keine feste Abfolge, ja nicht einmal eine Melodie. Nur Gefühl, nur Einheit.
"Drei mal drei rufen wir dich, wie es dein Recht ist. Drei mal, für Himmel, Erde und See", lachten sie beim Tanz, während ihre Körper sich miteinander wiegten, verschlangen, drehten.
Sie sangen Hekates Namen ins Sternenlicht. Apotropaia, die Gefahren abwendet. Phosphoros, Lichtbringerin. Kleidouchos, die die Schlüssel hält. Enodia, die Herrin der Wege. Soteria, die Retterin. Trimorphe, dreigestaltig. Propylaia, Torwächterin.
Sie drehten sich und sangen und tanzten, bis sie lachten, bis alles irdische abgefallen zu sein schien und sie zu dritt selbst zu der dreigestaltigen Göttin geworden waren, bis alles Schwere und Düstere zurückbleiben musste hinter der Macht des Sternenlichts.
Kara stand da, ihr Geist weit und offen, vollkommen frei und verbunden mit allem Leben, und atmete tief und befreit. Eine ganze Weile standen die drei frauen so einfach beieinander, ehe sie sich wissend anlächelten, und ohne ein Wort zu sagen, ohne sich vorzustellen oder etwas zu fragen, einander einfach nur zunickten, und sich dann auf den Weg machten, erst die eine, dann die andere.
Kara blieb noch einen Moment stehen und sah einfach zu den Sternen hoch. Ihre Gedanken waren bei der Göttin. Sie fühlte sich so frei, ihr Geist so weit. Sie war bereit für die Weisheit der Göttin. Sie sollte ihr nur ein Zeichen schicken, egal welches.