Bei den Griechen hatte es einst einen Mann gegeben, dessen Name Herodot gewesen war. Dieser hatte im zweiten Buch seiner "Historíai" von einem sonderbaren heiligen Vogel berichtet. Größe und Gestalt waren die eines Adlers mit rotem und goldenen Gefieder. Die Benennung dieses Vogels war "Phoínix". Phönix konnte viele hundert Jahre alt werden, doch wann immer seine Zeit zu sterben gekommen war, ereignete sich etwas wundervolles. Phönix baute sich ein Nest und ging in Flammen auf, zurück blieb nur ein Häufchen Asche und.. ein Ei. Daraus schlüpfte er dann als wiedererstandener junger Vogel. So folgte der Zyklus des Phönix einem ewigen Ablauf von Geburt und Tod, ähnlich dem Aufstieg und dem Untergang der Sonne, weshalb es geradezu prädestiniert schien den Phönix als Vergleich für die Königsherrschaft der parthischen Regenten herzunehmen, wie sich Mithridates am Tage seiner Krönung dachte, denn genauso wie die parthische Sonne mit jedem gestorbenen Großkönig unterging, so stieg sie mit seinem Sohn als neuen Regenten und neuen Phönix wieder auf, um den ewigen Kreis der Herrschaft fortzusetzen.
Nach dem Tode von Großkönig Osroes war die bildhafte parthische Sonne vierzig Tage verschwunden geblieben, denn so lange hatte die Trauerzeit angedauert. Während dieser Phase gab es keine Jagden und keine Festgelage im Großen Königspalast. Alle Völker des Reiches hatten Söhne und hochrangige Dienstherren zur Bestattung von Osroes entsandt zur Erweisung der letzten Ehre. Während der Trauerzeit hatten in allen Königsstädten und Satrapensitzen tausende von Sklaven zu jeder vollen Stunde Gebete an Ahura Mazda skandiert, damit der Aufstieg der Seele des Verblichenen beschleunigt werden mochte. In einem riesigen Zug hatte sich der königliche Hof mitsamt all seiner Vasallen von Ktesiphon aus in die ungefähr 64 Parasang* entfernte Königsstadt Ekbatana begeben, der traditionellen Grablege, sowohl der alten persischen Achmänidenkönige, als auch der heutigen parthischen Arsakiden. Das Grabmal des Osroes war innen vollständig mit Gold ausgekleidet, das sich nicht zersetzen würde und auch die Grabwächter hatte man nur unter den Besten ausgesucht nach Schönheit und kriegerischer Qualität. Jeder von ihnen hatte willig den tödlichen Hieb in die Brust empfangen, auf dass sie auf ewig ihren König beschützen konnten im Totenreich. Die Leichen wurden in einer strengen Anordnung, mit Ausrichtung zum Grabeingang um den goldenen Thron herum verteilt, auf dem Osroes für immer ruhen sollte. Eine große Ehre für eine jede Familie eine Wache für das Grab stellen zu dürfen, an ihre Namen würde man sich zusammen mit dem des Königs für immer erinnern und ihre Familien stiegen eine Stufe nach oben in der gesellschaftlichen Ehrenleiter. Am letzten Tag in der Gruft war Mithridates noch lange Zeit alleine bei seinem toten Vater gewesen, um sich mit ihm zu beratschlagen und ihm die letzte Ehre zu erweisen. Klagendes Weinen und geraunte Geheimnisse drangen an das taube Ohr des Osroes. Danach war es getan und alle verließen das Grabmal. Während des Baus hatten die Steinmetze und Arbeiter eine hölzerne Treppe benutzt, um hoch zum Grabeingang zu gelangen. Diese wurde jetzt niedergerissen, woraufhin die Pforte der letzten Ruhestätte unerreichbar hoch in der Klippe lag, in die das Grab geschlagen worden war, ähnlich einem in Stein gehauenen Fenster.
Vierzig Tage lang war die bildhafte parthische Sonne verschwunden, war der Phönix in seinem Ei geblieben, doch heute mit der Krönung Mithridates' in Ktesiphon würde sich dies ändern und der ewige Kreis der Herrschaft von neuem beginnen. Mit ihm als neuer König würde sie wieder über den Horizont steigen und heller und strahlender scheinen als nie zuvor, der imaginierte Phönix würde in einer gewaltigen Flammenzunge wiedergeboren neu zum Himmel emporsteigen und dabei ein Lied singen, das alle Untertanen mit Ehrfurcht und alle Feinde mit Panik erfüllen würde mit der immergleichen Botschaft; es gab einen neuen König, die Macht Parthiens war zurückgekehrt.
* = ca. 409 km
Parasang = altes persisches Längenmaß von ca. einer Reitstunde = 6,4 km/p>