2. Episodeion
Polyphem der Zyklop erscheint. Bei ihm hat sich die Schauspielertruppe selbst übertroffen. Polyphems Schauspieler ist der denkbar größte Mensch, den die Truppe zwischen hier und Tyrus aufgetrieben hat. Seine Riesenhaftigkeit wird noch durch spezielle Theaterschuhe gesteigert, wo der Fuß stelzenartig gut eine Unterarmlänge über dem Boden ist, die Konstruktion rundherum und unterbei jedoch wie ein einziger großer Schuh bzw. Stiefel wirkt, welcher sich organisch nach unten hin so weit verbreitert, dass der Schauspieler halbwegs sicher auftreten kann, ohne Furcht umzuknicken und sich die Knöchel zu verstauchen. Diese Theaterschuhe machen Polyphem gleich noch einmal um einiges größer, sodass er wirklich wirkt wie die Ungeheuer aus der Legende. Polyphem ist in groben grauen Schafs- und Ziegenfellen gekleidet, seine Maske ist im Umfang größer als normalerweise (zur zusätzlichen Steigerung des Rieseneffekts) und zeigt einen ungeschlachten vollbärtigen Mann mit breiter Fratze, dessen beide Augenhöhlen nur angedeutet sind, in der Stirn jedoch ein riesiges kreisrundes Auge prangt. Bei sich führt der Zyklop einen riesigen Wanderstock (der dem Schauspieler als verstecktes drittes Bein zusätzliche Balance gibt).
Volltönend beginnt Polyphem mit besonders weit tragender Bassstimme zu rufen: "Still! Sagt, was soll das! Diese Lustigkeit, wozu treibt ihr Bacchusdienst? Wo doch dieser Gott hier nicht ist. Auch nicht der Pauken und der Becken Lärm! Wie steht mir's mit den Zicklein in der Höhle? Wie? Saugen sie an der Mutterzitze, sag's mir, oder drücken sie die Seite? Und die Körb' aus Weid'geflecht sind voll von Milch? Was sagt ihr? He, was meint ihr? Mit dem Stocke werd' einen ich zu Tränen bringen gleich! Blickt nicht hinab zur Erde, hübsch hinauf zu mir empor gesehen, Bursche!"
Polyphem hebt drohend seinen Wanderstock in Richtung des Chors der Satyrn. Dieser blickt betreten zu Boden und spricht unisono:
"Sieh, selbst zum Iuppiter den Blick erhoben hier,
Gestirn und den Orion sehen wir."
"Das Mittagessen ist bereitet doch?"
"Es ist bereit, sieh nur zu, ob auch dein Schlund dazu bereit."
Silenos gackert und verschwindet in der Höhle.
Polyphem sieht ihm kurz nach, dann wendet er sich wieder an den Chor:
"Mit Milch sind auch die Krüge angefüllt?"
"Zu Schlürfen fässerweise sie nach Lust."
"Schafmilch?"
"Ja"
"Kuhmilch?"
"Ja, ja! Schlürf mich nur nicht mit in deinen Bauch."
Polyphem stößt ein Lachen aus.
"Ha, wahrhaftig nicht! Der Bockstanz in dem Magen müsst' mich stracks doch zu den Toten jagen! Doch halt, welchen Haufen seh' ich bei den Ställen dort? Sind Räuber oder Diebe hergekomm' in dieses Land? Ich seh' wie meine Lämmer festgebunden mit der Weidenfessel werden und dort! Auch meine Käsekörbe seh' ich vor der Kluft!" Polyphem sieht jetzt zu dem wieder hervorkommenden Silenos. "Und dir, dem Greisen, den Kahlkopf und das Antlitz von Schlägen und von Stößen schwer verletzt."
"Weh' mir, ach ich Unglückseliger habe das Fieber!"
"Von wem? Wer, Alter, schlug dein Haupt so sehr?"
Silenos zeigt plötzlich auf die Stelle hinten, dort wo sich Odysseus und seine Männer verbergen.
"Jene da, weil ich dein Eigentum nicht wollte wegtragen lassen!"
Polyphem brüllt einmal wie ein Ungeheuer.
"Rrrrahr! Wussten sie denn nicht, dass ich ein Gott, ein Göttersprosse bin?"
Silenos nimmt eine einschmeichelnde Körperhaltung an.
"Das sagt' ich ihnen, aber sie trugen die Schätze fort, fraßen dir die Käse weg, obschon ich's nicht leiden wollt', und trieben auch die Lämmer hier von dannen. Ja sie drohten, dass sie dich mit dreifachen Fesseln binden, dir die Eingeweide grade durch das Auge herausziehen und deinen Rücken mit Ruten peitschen wollten. Dann, dich gebunden, in den Schiffsraum werfen und danach an den Erstbesten verkaufen, auf dass du Steine brechen, oder Mühlen treiben mögest, voll geknechtet."
Wieder brüllt Polyphem.
"Wahrhaftig? Hurtig geh' und wetze mir die Messer und das Beil, auch häufe Holz in Masse zu der Flamme, dass sogleich wir sie erstechen und schlachten und zermalmen könn', zu meines Bauches Füllung! Ein Teil geröstet an der Kohlenglut, ein Teil im Kessel, weich und mürb gekocht, hmm, so soll mir diese Opferspeise trefflich munden. Denn überdrüssig bin ich auch des Wilds, gesättigt von der Löwen, Hirschen Fleisch. Gib mir dieser Männer süße Brust, hmm, zu lang schon aß ich Menschenfleisch nicht mehr!"
Silenos nickt eifrig und wackelt mit dem Kopf.
"Ein neues Gericht, nach langer Wiederholung des alten, ist doppelt süß o Herr. Schon lange nicht sind Fremde hier gelandet und zu deiner Höhle hergekommen."
Da hält es Odysseus nicht mehr aus. Er springt auf und tritt aus dem Versteck hervor bis direkt vor Polyphem. Mit einer anrufenden Handgeste spricht er: "Vernimm, Kyklop, nun auch uns, die Fremdlinge! Bemüht, uns durch Kauf uns Speise zu verschaffen, kam aus dem Schiff zur Höhl' ich mit den meinen. Die Lämmer hat uns jener da verkauft für einen Becher Weins, nachdem er ihn gezecht. Und gab uns alles willig gern als Freund! Mit Gewalt entführten wir sie also nicht. Wohl nicht bei Sinnen hat er das Falsche dir hier vorgelogen, da ertappt er ward, wie das deine heimlich er zu verkaufen im Begriff gewesen."
Silenos zeigt übertrieben auf sich selbst.
"Iiich? Sei des Henkers, augenblicklich!"
"Wenn ich lüge."
Silenos beginnt bei der Beschwörung von Neptun, Triton, Kalypso und einiger weiterer Meeresgestalten hoch und heilig zu versprechen, dass er des Meisters Schätze nie und nimmer an die Fremden verkauft habe und wenn er lüge, so sollten seine heißgeliebten Buben hinab in den Tartarus fahren. Das weckt Leben im Chor der Satyrn. Empört antworten er:
"Da sieh dich vor! Ich selbst sah dich an den Fremden diese Güter ihm verkaufen. Red' ich Lügen, so soll Tod den Vater treffen, doch den Fremden schone."
Polyphem glaubt aber Silenos und nicht dem Chor. Dann spricht er Odysseus mit der Frage an woher sie denn kämen. Er antwortet: "Von Ithaka sind wir, von Illions Verwüstung kommen wir durch Sturm im Meer hierhergeschleudert in dein Land, Kyklop." Polyphem nennt den Zug der Achäer gen die Stadt des Priamus "schimpfwürdig", worauf Odysseus einen langen Monolog darüber hält, in dem er an Polyphem und die Sitte der Gastfreundschaft appelliert. Der Zyklop solle ihnen besser Nahrung und Kleidung geben, anstatt sie zu verspeisen.
Silenos hört das nicht gern und ruft den Einäugigen seinerseits an, er solle von Odysseus' Fleisch auch ja nichts übrig lassen, hätte Polyphem erst des Ithakers Zunge ganz verschlungen, so wäre er der wortgewandteste Manne Siziliens und von der ganzen Welt.
Polyphem antwortet seinerseits mit einem nicht minder langen Monolog. Er fürchte nichts und niemanden, nicht einmal den gewaltigen Iuppiter. So wenn der Donnerer die Blitze rollt und Regen strömt, so liege Polyphem bequem im Zelt und schmaust sein Kalb, sein Wild und trinkt dazu die Milch aus Eimern. Und bricht einmal der Ätna aus, so schreckt auch das ihn nicht, dann würden umso eher jene Kräuter wachsen, die sein Viehe mästen, die der Zyklop dann sich selbst im Mahle opfert, nur ihm und keinem and'ren Gott. Sein Magen ist Polyphem der höchste Gott. Darum wolle er Odysseus fressen, das sei sein Gastgeschenk an ihn.
Odysseus beginnt zu klagen: "Weh, oh wehe! Entronnen bin ich Trojas Gefahren, der Wut des Meer's, doch an des Mannes frevel'n Herzen, des gastlosen, scheitr' ich nun. O Minerva! Herrin, iuppitererzeugte Göttin, nun errett' uns, eine größere Gefahr als dort bei Illion gewärt'gen wir. Du, der du in funkelnden Gestirnen thronst, Iuppiter! Gastbeschützer, blick' herab. Wo nicht, so glauben wir vergebens Iuppiter, dann bist du nichts."
Odysseus geht von der Bühne ab. Im Hintergrund tun es ihm seine Männer gleich.
Sim-Off:Schauspieler in dieser Szene: Polyphem, Odysseus, Silenos, Chor
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