Was wünscht sich ein Vogel in seinem Käfig, der niemals die Freiheit gekostet hat? Die Freiheit? Das Wissen zu erlangen, was außerhalb seines Käfigs ist? Nein, ein Vogel, der niemals frei gewesen war, ist mit seinem Dasein zufrieden. Der Käfig ist sein Kosmos, auch wenn er noch so beengt ist. Darin unterschied ich mich von den Singvögeln, die hier im Harem von den Damen gehalten wurden. Die kleinen Geschöpfe sangen ihr Lied und ließen ihre Herrinnen darüber vergessen, dass sie selbst wie diese Vögel waren.
Ich Prinzessin Shireen, 16. Tochter der dritten Nebenfrau des Schainschas Osroes, war vor siebzehn Jahren in diesen Mauern geboren worden. Als Prinzessin hatte ich alle Vorzüge eines luxuriösen Lebens im Harem des Großkönigs genossen. Ein Heer von Sklavinnen hatte seit dem ersten Tag meines Lebens für mich gesorgt. Sie wuschen mich, frisierten mich und sie kleideten mich in die edelsten Gewänder aus Seide und Brokat – Tag für Tag, Jahr um Jahr.
Als Kind hatte ich den Harem noch als sicheren Ort und Schauplatz etlicher Abenteuer wahrgenommen. Ich hatte eine Unmenge an Spielkameraden – Bruder und Schwestern, sowie die Kinder der Sklavinnen, die in gewisser Weise ja auch alle meine Geschwister gewesen waren und die alle ebenfalls im Harem lebten. Einen ersten Einschnitt in diese Sorglosigkeit erlebte ich mit sechs Jahren. Denn von da an erhielt ich Unterricht von einem griechischen Sklaven, der mich seine Muttersprache lehrte. Durch ihn erhielt ich Zugang zu einer völlig neuen Welt. Die der Literatur und der Philosophie. Natürlich hatte man ihn zuvor zum Eunuchen gemacht, da ihm sonst der Zutritt zum Harem verwehrt geblieben wäre. Ich betrauerte den Tag, an dem er ich zum letzten Mal besuchte, denn er war der Erste, der mir vom Leben außerhalb des Palastes berichtete. In meinen Tagträumen reiste ich in die fernen Länder, von denen er mir oft erzählt hatte. Damals begann meine Sehnsucht nach dem Unbekannten zu keimen.
Meinen Vater bekam ich nur sehr selten zu Gesicht. Wenn ich mich recht entsinne, habe ich ihn höchsten sechs oder siebenmal gesehen und mit ihm gesprochen. Als er starb, trauerte ich natürlich, doch in meinem Inneren hatte ich nichts empfinden können.
Nun da mein Halbbruder Mithridates den Thron bestiegen hatte, begann ich mir einzureden, dass meine Chancen womöglich steigen könnten, einen Fuß nach draußen zu setzen, in die andere Welt. Ich nahm meinen ganzen Mut zusammen und besuchte die Mutter des neuen Schainschas, um mir ihre Aufmerksamkeit zu sichern. Sie war sofort sehr angetan von mir und schien mich bereits gedanklich für ihren Sohn als Nebenfrau auserkoren zu haben. Beim nächsten Besuch des Großkönigs wollte sie mich ihm vorstellen...